Beschluss des OLG München vom 22.6.2022, Az. 31 AR 73/22

 

I. Einleitung

Die Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO), die seit dem 17.8.2015 in der gesamten Europäischen Union geltendes Recht ist, knüpft sowohl für die Zuständigkeit der Nachlassgerichte als auch für die Frage des auf einen Erbfall anzuwendenden Erbrechts an den „gewöhnlichen Aufenthalt“ an, den der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes gehabt hat. Dies ergibt sich aus den Artikeln 4 und 21 der Verordnung. Was dieser „gewöhnliche Aufenthalt“ genau ist, wird immer wieder in gerichtlichen Entscheidungen untersucht. Der gewöhnliche Aufenthalt ist jedenfalls nicht identisch mit der Meldeadresse oder dem Wohnsitz. Vielmehr wird dieser Begriff aus einer Mischung aus objektiven und subjektiven Momenten, also tatsächlichem Aufenthalt sowie auch eine Art Bleibenwollen des Betroffenen bestimmt. Das Oberlandesgericht München hatte jetzt in einem lediglich innerdeutschen Fall unter Anwendung der EuErbVO den Sitz des Nachlassgerichtes zu erkennen, der aufgrund des Versterbens eines Erblassers an einem anderen als seinem eigentlichen Wohnort umstritten war. Die hier aufgeführten Überlegungen gelten aber ohne weiteres auch für den Fall, dass der Erblasser in einem anderen Staat verstirbt. Da zudem im Art. 4, der die Zuständigkeit des Nachlassgerichtes regelt, derselbe Begriff verwendet wird wie in Art. 21, der die Anwendung des jeweiligen materiellen Erbrechts regelt, sind die Überlegung des OLG München für beide Situationen anwendbar.

 

II. Die Fragestellung

Der Erblasser hatte von 1984 bis in den Herbst des Jahres 2020 in München gelebt und hatte auch eigentlich nicht vor, seinen dortigen Lebensmittelpunkt aufzugeben. Er erkrankte jedoch schwer. Aufgrund der durch die Krankheit ausgelöste Schwächung seiner Gesundheit begab er sich in die Pflege von Verwandten, die in einem Ort des Amtsgerichtsbezirks Heilbronn lebten. Er behielt seine Wohnung in München bei und beabsichtigte auch nach Genesung dorthin zurückzukehren. Bedauerlicherweise verstarb er aber in der Pflege seiner Verwandten schon nach drei Monaten, sodass er entgegen seiner Absicht nicht in die noch bestehende Wohnung in München zurückkehren konnte. Die Frage, welches Nachlassgericht nun für die Erbschaft nach ihm zuständig war – Heilbronn oder München – hatte schlussendlich nach den gültigen Verfahrensvorschriften (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 FamFG) das Oberlandesgericht München zu beantworten. Als ein entscheidendes Kriterium war der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Augenblick des Todes heranzuziehen und zu bestimmen, wo der Verstorbene ebendiesen gehabt hatte.

 

III. Rechtliche Überlegungen zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts entsprechend der EuErbVO

Im Gegensatz etwa zu einem – gar gemeldeten – Wohnsitz oder anderen leicht erkennbaren Situationen bestimmt sich der gewöhnliche Aufenthalt nicht von selbst. Ihn zu ermitteln bedarf einer juristischen Herangehensweise. In der hier besprochenen Entscheidung ist die Rede von einer „Gesamtbeurteilung der Lebensumstände“, für die neben objektiven Tatsachen auch subjektive Vorstellungen des Erblassers zu berücksichtigen sind.

1. Objektive tatsächliche Umstände

Grundsätzlich ist zunächst der tatsächliche Lebensmittelpunkt des Erblassers zu berücksichtigen. Das ist der Ort, an dem er sich tatsächlich aufhält und sozusagen „lebt“. Eine Beurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod, aber auch zum Zeitpunkt seines Todes sollen hier zu dem Ergebnis führen, den sozusagen objektiven gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der EUErbVO zu bestimmen

2. Subjektive Elemente

Mit dem bloßen Anwesendsein bzw. „leben“ an einem bestimmten Ort ist aber nicht ohne weiteres schon ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Gesetzes begründet. Hinzutreten soll noch nach wohl herrschender Meinung in der Rechtsprechung ein subjektives Element, nämlich ein Aufenthalts- bzw. Bleibewille des Erblassers. Ohne die Anwendung dieses subjektiven Kriteriums könnten Fälle eines erzwungenen oder gegebenenfalls willenlosen Aufenthalts (etwa bei schwer dementen Erblassern) dazu führen, dass das jeweilige Erbrecht des Aufenthaltsortes auch dann angewendet wird, wenn der Erblasser vielleicht ohne sein Wollen gerade wegen der Anwendung eines bestimmten Erbrechts an diesen Ort verbracht worden ist. Deshalb setzt gewöhnliche Aufenthalt im Sinne der EuErbVO zwingend voraus, dass der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes sich aufgrund eigener Willensbildung an einem Ort aufhält und der Aufenthalt an diesem Ort nicht von vornherein ein lediglich zeitlich begrenzter vorübergehender Aufenthalt, wie etwa bei einem Urlaub, sein sollte. Dabei spielt es keine Rolle, warum der Erblasser entsprechenden Entschluss gefasst hat, solange er nur nicht dazu gezwungen wurde. Die bloße Vorstellung des Erblassers, eigentlich lieber an einem anderen Ort sein zu wollen, spielt keine Rolle.

 

IV. Konsequenzen für die Bestimmung des nach EuErbVO maßgeblichen Ort des gewöhnlichen Aufenthalts

Im zu entscheidenden Fall war es klar, dass der Erblasser lieber in München gelebt hätte und, wenn es Ihm möglich gewesen sein sollte, auch in seine dortige Wohnung zurückkehren wollte. Aufgrund der Prüfung oben genannter Kriterien führte das aber nicht dazu, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in München anzunehmen.

1. Der Erblasser hatte sich zwar nur wegen der besseren Pflegemöglichkeiten von seinem ursprünglichen Wohnsitz zu seinen Verwandten an einen anderen Ort begeben und wäre eigentlich lieber an seinem ursprünglichen Wohnsitz geblieben. Das macht seine Entscheidung des Umzuges aber nicht zu einer gegen seinen Willen erzwungenen. Er selbst hat aufgrund der Umstände die Wohnsitzverlegung bewusst herbeigeführt. Der Umzug war sein Wille. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der von ihm selbst gewählte Aufenthaltsort nicht seinen Idealvorstellungen entsprach. Auch war es nicht so, dass er sich an dem von ihm gewählten Wohnort nur für eine von vornherein zeitlich begrenzte, absehbare Dauer aufhalten wollte. Es war so, dass er aufgrund seiner Erkrankung nicht alleine leben konnte, auf Pflege angewiesen war und deshalb nicht vorherbestimmen konnte, wann bzw. ob überhaupt, er soweit gesunden würde, dass er den gewählten Aufenthaltsort wieder verlassen könnte. Sein Aufenthalt war also auf unbestimmte Dauer angelegt.

2. Auch sein Wille, wenn möglich wieder in seine Wohnung in München zurückzukehren, steht nach Ansicht des OLG München einer Bestimmung des Sterbeortes als letztem gewöhnlichen Aufenthalt nicht entgegen. Der Wunsch des Erblassers, bei Änderung der Lebensumstände den Aufenthaltsort wieder zu wechseln muss zwar in der Gesamtbetrachtung berücksichtigt werden. Dieser Wunsch kann aber nicht allein entgegen den sonstigen Umständen der tatsächlichen Lebensverhältnisse einen anderen gewöhnlichen Aufenthalt begründen als den, der sich nach vorheriger Betrachtung ergibt. Sonst wäre es dem Erblasser möglich, durch den bloßen Wunsch nach Ortsveränderung, für den Nachlass einen anderen Gerichtsstand zu begründen als den, der sich aufgrund der tatsächlichen Umstände durch den gewöhnlichen Aufenthalt ergibt. Zudem müsste ein solcher Wunsch nach Ortswechsel, um solch entscheidende Berücksichtigung zu finden, durch objektiv tragfähige Grundlagen unterstützt werden. In einem Fall wie diesem, in dem der Erblasser aufgrund seiner schweren Erkrankung auf absehbare Zeit gar nicht in der Lage gewesen wäre, einen solchen Wunsch zu vollziehen, kann der Umzugswunsch allein keinen anderen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Gesetzes begründen.

Im Ergebnis war also hinsichtlich der Zuständigkeit das Amtsgericht des Bezirks als Nachlassgericht auszuwählen, in dem der Erblasser verstorben war und nicht das Amtsgericht München.

 

V. Hinweis für die erbrechtliche Praxis

Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, kann sich der „Gewöhnliche Aufenthalt“ des Erblassers im Sinne der EuErbVO schnell ändern. Schlimmstenfalls genügt bei mehr oder weniger freiwilligem Wechsel des Wohnortes und einer auf unbestimmte Zeit angelegten Aufenthaltsdauer an dem anderen Ort eine recht kurze Zeitspanne, um den Aufenthaltsort im rechtlichen Sinne geändert zu haben. Wirklich relevant wird das in den Fällen, in denen ein solcher Umzug aus welchen Gründen auch immer, aber im besonderen vielleicht gerade, wenn es um Hilfeleistung für Pflegebedürftige geht, in einen anderen Staat stattfindet. Dann kann es dazu kommen, dass wegen Art. 21 Abs. 1 EurErbVO auf den Nachlass des Versterbenden das Erbrecht dieses Staates angewendet wird, was völlig ungewollte Wirkungen haben kann. Deshalb empfiehlt es sich, entsprechend Art. 22 Abs. 1 EurErbVO in solchen Fällen durch letztwillige Verfügung für den eigenen Nachlass das Recht des eigenen Heimatstaates zu wählen. Dies kann man auch prophylaktisch machen, ohne dass man schon seinen Wohnsitz/gewöhnlichen Aufenthalt geändert haben müsste. Auf diese Weise kann man unerwünschten Rechtsanwendungen vorbeugen.