Ein bemerkenswertes Urteil des Bundesgerichtshofs (vom 29.6.2022; Az IV ZR 110/21)

I. Einleitung

Seit dem 17.8.2015 gilt im gesamten EU-Europa die Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO) unmittelbar. Sie ist also ohne weiteres geltendes Recht. Nach Artikel 21 der Verordnung gilt im Erbfall für den Nachlass das Recht des Staates, in dem der Erblasser seinen „letzten gewöhnlichen Aufenthalt“ hatte. Das bedeutet grundsätzlich, dass der Erblasser in diesem Staat seinen Wohnsitz hatte und – vereinfacht ausgedrückt – seinen Lebensmittelpunkt. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings eine gewichtige Ausnahme. Nach Art. 22 der EuErbVO kann der Erblasser, der eine andere Staatsangehörigkeit hat als die des Staates, in der er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, auch durch Letztwillige Verfügung das Recht seines Heimatlandes für die Abwicklung seines Nachlasses wählen. Dieses Recht steht ihm aufgrund der europäischen Erbrechtsverordnung zweifellos zu. Der BGH hat nun in dem besprochenen Urteil diese aufgrund europäischen Rechtes eigentlich ohne weiteres zulässige Rechtswahl in ihren Konsequenzen unter bestimmten Umständen eingeschränkt.

II. Die Problemstellung: Ausschluss des Pflichtteils durch Rechtswahl?

Die Frage, die der BGH zu entscheiden hatte war, ob es möglich ist, auch bei einem Nachlass „mit Inlandsbezug“ durch die grundsätzlich zulässige Wahl des Heimatrechts des Erblassers das deutsche Pflichtteilsrecht zu umgehen.

Ein britischer Staatsbürger lebte bis zu seinem Tod über fünfzig Jahre in Deutschland, ohne selbst deutscher Staatsbürger zu werden. Er hatte einen (Adoptiv-) Sohn, der Deutscher war und in vollem Umfange nach deutschem Recht gesetzlich erbberechtigt gewesen wäre. Der Erblasser besaß in Deutschland Immobilienvermögen und nicht ganz unbeträchtliche sonstige Werte. Soweit man es den zugänglichen Informationen entnehmen kann, hatte er wohl keine Vermögenswerte in Großbritannien. Einige Jahre vor seinem Tod traf der Erblasser mit einem formgerechten notariellen Testament in Deutschland eine Rechtswahl entsprechend Art. 22 EuErbVO zu Gunsten seines Heimatrechts und bestimmte dort, dass für seinen Nachlass englisches Recht anzuwenden sein sollte. Außerdem legte er in diesem Testament einen familienfremden Alleinerben fest und enterbte somit seinen Sohn.

Das englische Erbrecht kennt keinen Pflichtteilsanspruch naher Angehöriger, auch nicht der Kinder oder andere Nachkommen. Nur unter bestimmten Umständen bestimmt das englische Erbrecht für Kinder eines Erblassers, der diese enterbt hat, eine Art Unterhaltsanspruch, der aber auch von der Bedürftigkeit des Kindes und anderen Voraussetzungen abhängt. Zum Teil hängt ein solcher Unterhaltsanspruch auch vom Ermessen des zuständigen Nachlassgerichts ab. Bei volljährigen Kindern mit wirtschaftlicher Eigenständigkeit ist man in der Rechtsordnung des Common Law, das in England gilt, sehr zurückhaltend mit der Gewährung eines solchen Unterhaltsanspruchs. Es kann also durchaus sein, dass ein nach deutschem Recht Pflichtteilsberechtigter auch als Nachkomme eines ziemlich vermögenden Elternteils bei Anwendung englischen Rechtes völlig leer ausginge. Ob das hier der Fall war, musste der BGH entscheiden.

III. Grundsätzliche Erwägungen des BGH zum deutschen Pflichtteilsrecht als Teil der Öffentlichen Ordnung (ordre public) der Bundesrepublik Deutschland

1. Wie oben ausgeführt, darf jemand von dem in der Erbrechtsverordnung geregelten Prinzip, dass sein Nachlass nach dem Erbrecht des Staates geregelt wird, in dem er seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hat, abweichen, wenn er eine andere Staatsangehörigkeit als die dieses Staates hat und er mit Letztwilliger Verfügung bestimmt, dass das Recht seines „Heimatstaates“ auf seinen Nachlass angewendet wird. Davon gibt es die Ausnahme nach Art. 35 EurErbVO. Danach ist das gewählte Recht des Heimatstaates nicht anzuwenden, insoweit es gegen den ordre public des Landes des gewöhnlichen Aufenthaltes des Erblassers verstößt.

2. Was nun der ordre public im Sinne von Art. 35 EurErbVO ist, ist nicht immer so klar, wie es eigentlich sein müsste. Denn die genannte Vorschrift macht das Verbot der Anwendung heimatlichen Erbrechtes nur dann möglich, wenn die Anwendung dieses Erbrechtes offensichtlich mit der öffentlichen Ordnung des anderen Staates nicht vereinbar ist. Der BGH stand hier also vor der Aufgabe zu prüfen, ob der Ausschluss einer Pflichtteilsberechtigung nach deutschem Recht durch das angewendete englische Recht nun einen solchen offensichtlichen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung Deutschlands darstellt.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 19. April 2005 (Az 1 BVR 1644/00 und 188/03) festgestellt, die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes betreffe auch eine „grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass“. In derselben Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht die bestehenden Pflichtteilsregelungen für zu diesem Zweck ausreichend. Das Verfassungsgericht machte keine Angaben über die mindestens erforderliche Höhe des Pflichtteils und ließ insofern die Frage offen, ob auch eine geringere „Mindestbeteiligung“ als die nach dem deutschen Pflichtteilsrecht noch von Verfassung wegen zulässig wäre. (Diese Frage könnte für Entscheidung ähnlicher Fälle wie des hier besprochenen eine Rolle spielen, wenn die gewählte ausländische Rechtsordnung solche Mindestbeteiligungen zwar vorsieht, diese aber geringer sind, als sie es nach deutschem Erbrecht wären. Im hier gegenständlichen Fall ging es aber um den kompletten Ausschluss und ist insofern die Frage der Höhe des Pflichtteils irrelevant.)

4. Es gibt durchaus vertretbare Gründe, warum man der Ansicht sein kann, dass ganz grundsätzlich das Durchschlagen des deutschen Pflichtteilsrechts auf andere Rechtsordnungen vermittelst der Anwendung von Art. 35 EuErbVO nicht rechtskonform ist. Immerhin würde dadurch ja gerade ein nicht unwesentlicher Teil der gewählten nichtdeutschen Rechtsordnung durch deutsches Recht sozusagen zwangsweise „korrigiert“. Dazu unten noch einige weitere Anmerkungen.

5. Der Bundesgerichtshof hat sich aber auf den Standpunkt gestellt, dass die vom Bundesverfassungsgericht im oben erwähnten Beschluss festgestellten Grundsätze zur „bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass Ihrer Eltern“ eine solche Bedeutung haben, dass sie einen Teil des deutschen ordre public darstellen. Dabei ist zu bedenken, dass mit dieser Ansicht in keiner Weise etwa auf Bedürftigkeit oder Versorgung der Pflichtteilsberechtigten abgestellt wird. Die materiellen Verhältnisse des potentiellen Erben/Pflichtteilsberechtigten spielen für die Berücksichtigung im Pflichtteilsrecht keine Rolle. Damit ist für den Bundesgerichtshof grundsätzlich der Weg frei zur Anwendung von Art. 35 der EuErbVO im entschiedenen Fall. Der Bundesgerichtshof macht noch einen kleinen argumentativen Schlenker, in dem er darauf hinweist, seine Meinungsbildung finde unter der Prämisse statt, dass der zu entscheidende Erbfall einen „hinreichend starken Inlandsbezug“ haben muss. Den sieht der Bundesgerichtshof hier dadurch gegeben, dass der Pflichtteilsberechtigte Deutscher ist und das Vermögen des (englischen) Erblassers sich in Deutschland befindet.

6. Der hiesige Erblasser hatte in seinem Testament keinerlei Kompensationen für seinen erwachsenen Sohn anstelle des Pflichtteils vorgesehen, insbesondere auch keine Versorgungsleistungen. Er hatte schlicht einen anderen Erben bestimmt und damit war sein Sohn enterbt. Aufgrund der englischen Rechtslage, die hier im Detail nicht zu berücksichtigen ist, verhielt es sich auch so, dass der Sohn aufgrund englischen Rechtes keinerlei Kompensationen oder Unterhaltsansprüche zu erwarten hatte. Er hätte also schlicht nichts erhalten.

7. Dieses konkrete Endergebnis wertet der Bundesgerichtshof als Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung im konkreten Fall und erklärt daher die Anwendung englischen Rechts trotz der an sich erlaubten Rechtswahl des Erblassers für insoweit nicht zulässig.

Im Ergebnis muss man also dem Sohn einen Pflichtteilsanspruch gewähren.

Das hat hier die besondere Pointe: der Sohn wäre der alleinige Erbe gewesen, hätte deutsche gesetzliche Erbfolge stattgefunden. Das macht dann im konkreten Fall einen Pflichtteilsanspruch von 50 % aus. Hier drängt sich der Gedanke förmlich auf, dass eine derartig massive Beteiligung am Nachlass eines Menschen, der ausdrücklich nicht wollte, dass sein Vermögen an seine Nachkommen übergeht und dies auch bei der eigentlich zulässigen Anwendung seines Heimatrechtes hätte erreichen können, nicht durch die deutsche öffentliche Ordnung geboten ist. Allerdings sah sich der Bundesgerichtshof außerstande, hier eine andere Quote zu bilden, weil es eben hier nur um die Frage ging, ob nun das deutsche Erbrecht trotz der anderslautenden Rechtswahl anzuwenden sei oder nicht.

8. Der Bundesgerichtshof hat in dem besprochenen Urteil die Meinung vertreten, dass der Europäische Gerichtshof nicht mit dieser Frage beschäftigt werden müsse, denn es gehe hier nicht um die Auslegung einer Norm der Europäischen Erbrechtsverordnung im europarechtlichen Kontext. Vielmehr sei es eine Frage des nationalen Rechts, ob in dem betroffenen Europäischen Mitgliedstaat der ordre public die Anwendung des Art. 35 EuErbVO gebiete. Also wird hier von selbst keine Beschäftigung des Europäischen Gerichtshofs mit der Angelegenheit erfolgen.

IV. Kritik und Konsequenzen für die Gestaltungspraxis

1. Der Bundesgerichtshof hat zwar zunächst den Weg zum europäischen Gerichtshof nicht eröffnet. Es könnte aber sein, dass andere Wege gefunden werden, um die Sache dort noch einmal überprüfen zu lassen. Man kann durchaus der Meinung sein, dass durch eine solche Entscheidung das eigentlich vorrangige Europäische Recht zur Möglichkeit der Rechtswahl des Erblassers beschädigt wird.

Nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO wird dem Erblasser ausdrücklich die Möglichkeit gewährt, ein anderes Recht als das Recht seines gewöhnlichen Aufenthaltsortes für seinen Nachlass zu wählen. In dem hier entschiedenen Fall war also der Erblasser ohne weiteres durch die EuErbVO ermächtigt, für seinen Nachlass das englische Erbrecht zu wählen. Das bezweifelt auch der Bundesgerichtshof nicht. Durch die Rechtsansicht des Bundesgerichtshofes aber, das deutsche Pflichtteilsrecht sei über Art. 35 EuErbVO auch in diesem Falle anzuwenden, wird für den englischen Erblasser die Möglichkeit der Rechtswahl stark entwertet. Denn es ist ja gerade ein prägendes Element des Erbrechts in England, wie auch in anderen – höchst demokratischen! – Staaten, in denen das Common Law die Rechtsordnung bildet, dass es eben gerade keine „bedarfsunabhängige“ Pflichtbeteiligung von Kindern am Nachlass Ihrer Eltern gibt. Nun wählt ein Bürger eines solchen Landes in vollständigem rechtlichen Einklang mit der EuErbVO gerade dieses Recht, vielleicht sogar gerade wegen dieser Wirkung. Er will sein Vermögen nicht an seine Nachkommen weitergeben. Dann ist es nicht ohne weiteres verständlich, wenn deutsche Gerichte diesem Erblasser deutsches Erbrecht im Hinblick auf die rein materielle Verteilung seines Nachlasses aufzwingen. Es ist im Europäischen Recht gerade festgeschrieben, dass ein Erblasser das Recht seiner Heimat eben auch dann für seinen Nachlass wählen kann, wenn er nicht dort lebt und zwar ausdrücklich unabhängig von der Frage, wo auf der Welt sich sein Vermögen befindet. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes, die Gegenstand dieses kleinen Artikels ist, ist diese vom europäischen Recht gewährte Möglichkeit stark eingeschränkt. In den Fällen, in denen es nur einen gesetzlichen Erben gibt, der nach deutschem Recht pflichtteilsberechtigt wäre, wird diese Einschränkung besonders augenfällig: im Ergebnis erhält dieser dann wertmäßig 50 % des Nachlasses, obwohl der Erblasser vollkommen rechtmäßig eine letztwillige Verfügung errichtet hat, nach der er gar nichts bekommen sollte. Diese Einschränkung der Wahlmöglichkeiten entsprechend Art. 22 Abs. 1 EuErbVO wirft Fragen auf, die noch geklärt werden müssen.

2. Offen bleibt naturgemäß nach diesem Urteil auch die Frage, ob gegebenenfalls bei Anwendung des ausländischen Erbrechts Letztwillige Verfügungen zugunsten des potentiell Pflichtteilsberechtigten im Sinne des deutschen ordre public ausreichend sein könnten, die in der Summe nicht die Höhe der gesetzlichen deutschen Pflichtteilsansprüche erreichen. Weil in dem zugrunde liegenden Fall jeder Anspruch ausgeschlossen war, hatte sich der Bundesgerichtshof nicht dahingehend zu äußern, ob wirklich der volle Pflichtteilsanspruch zu gewähren ist, wenn man eine Verletzung des ordre public entsprechend Art. 35 EuErbVO feststellt. Dies wird späteren Entscheidungen vorbehalten bleiben. – Unklar ist auch noch, wie viel „Inlandsbezug“ in der entsprechenden Erbsituation notwendig ist, um das deutsche Pflichtteilsrecht zwingend anwendbar zu machen. Im hier zu Grunde liegenden Fall hatte der Erblasser über fünfzig Jahre ausschließlich in Deutschland gelebt, wohl nur deutsches Vermögen und einen Nachkommen, der Deutscher war; es sind natürlich viele Fälle vorstellbar, in denen der „Inlandsbezug“ nicht annähernd so groß ist, sodass man selbst in der vom BGH jetzt entworfenen Systematik nicht sicher sein kann, ob man in jedem Falle der Rechtswahl und damit verbundener Enterbung eines Nachkommen mit Pflichtteilsansprüchen konfrontiert werden wird. Hier muss die Entwicklung abgewartet werden.

3. Das Urteil ist in der Gestaltungspraxis unbedingt zu berücksichtigen. Es wurde immer wieder diskutiert, ob man aufgrund der Bestimmungen der EuErbVO unliebsame Nachkommen vollständig vom Erbe ausschließen könnte. Als Mittel der Wahl wurde hier überlegt, ob man entsprechend Art. 21 Abs. 1 EuErbVO seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ in einen Staat verlegt, dessen Erbrecht einen Pflichtteilsanspruch nicht kennt. Da grundsätzlich dessen Erbrecht im Todesfalle für den Nachlass gelten würde, hätte man dann die Idee verfolgen können, durch letztwillige Verfügung bestimmte Nachkommen nicht zu berücksichtigen, die dann leer ausgegangen wären. Aber wenn der Bundesgerichtshof schon einem britischen Staatsbürger verwehrt, aufgrund seines Heimatsrechts Pflichtteilsansprüche von Nachkommen auszuschließen, dürfte dies erst recht für Deutsche gelten, die lediglich ihren Wohnsitz etwa nach England verlegt haben, um erbrechtliche Wirkung zu erzielen. Man muss jedenfalls nach dieser Entscheidung festhalten, dass die Rechte der der Pflichtteilsberechtigten auf Teilhabe am Nachlass noch mehr gestärkt wurden. Dabei muss immer wieder daran erinnert werden, dass der Pflichtteil nichts mit Versorgung etwa aus sozialen Gründen oder ähnlichem zu tun hat: es gilt das Prinzip der „angemessenen Mindestbeteiligung“ am Nachlass der direkten Vorfahren, insbesondere der Eltern, wie groß auch immer dieser Nachlass sein mag. Der Pflichtteil ist lediglich quotal, aber nicht in der Höhe begrenzt.

Wir gehen davon aus, dass diese Problematik bald wieder instand obergerichtlicher Entscheidungen sein werden.